
Der erste Seuchen-Sommer war ernüchternd und langweilig. Sie las täglich die Nachrichten, wartend auf ein Wunder, das auf sich warten ließ. In dieser Zeit erinnerte sie sich an das Theaterstück «Warten auf Godot» von Samuel Beckett. Es passte perfekt zu dieser meschuggenen Stimmung.
Ihre einzige Freude war ein Zeitungsbericht über einen indischen Bundesstaat, der auf Pestizide verzichten wollte. Sie hob den Bericht auf und überlegte beim Zusammenfalten, ob sie ihn jemals für ihren Arsch brauchen würde. Wenn ja, dann wäre das eine Niederlage.
Als eine Freundin sie triggerte mit dem Gerücht, dass der Staat bald Strom und Wasser abstellen wolle, kaufte sie in höchster Panik einen Gaskocher und zwei Gaspatronen. Jede hat fünf Stunden Power.
Das dürfte schätzungsweise reichen für zehn Stunden, also eine oder zwei Wochen. Große Plastikbehälter mit Deckel kaufte sie, um sie im Notfall mit Wasser zu füllen. Und Silberionen-tabletten, um es für sechs Monate haltbar zu machen.
Trockenobst, Getreide, Tomatensugo.
Ihre eigene geplatzte Cloud, ihr bemühtes, aber gescheitertes Leben, hat sie angeschaut in jenem Sommer. Alles hat sie fein säuberlich zerlegt und pulverisiert. Dann stand sie im Nebel des Pulver-rauchs und hoffte nur noch und betete.
Die Zeit schlug sie tot mit extensivem Laden-diebstahl, der sie zusammen mit der Seuche, der Angst, befallen hatte. Früher hatte sie ihre Einkäufe immer bezahlt. Doch mit der Seuche hörte sie auf zu zahlen und steckte nur noch ein. Wenn sie armen Menschen begegnete, gab sie ihnen Geld. Wenn sie Lust auf Alkohol hatte, klaute sie eine Flasche Châ-teauxneuf-du-Pape und trank sie allein, kotzte allein und bereute es auch allein.
Oft hatte sie Angst, dabei erwischt zu werden, wie sie sich eine eigene Welt erschaffen hatte nach ihren Vorstellungen. Da war ihr wiederkehrender Traum von der falschen Münze, auf der das Wort Freiheit stand, wegen der sie verhaftet wurde. Der Traum von Freiheit.
Die Einsamkeit war schwer zu ertragen. Auch auf ihrem imaginären Gipfel war sie allein. Vor allem abends hätte ihr ein bisschen Sex oder Zärtlichkeit oder nur schon Berührung gutgetan. Aber die Straßen waren leer. Nur Katzen kreuzten immer wieder ihren Weg und holten sich bei ihr Streichel-einheiten. Ihr Schnurren tat gut.
Der neue Campingkocher war für sie eine Offen-barung. Sie saß vor dem Supermarkt in der warmen Herbstsonne von Halloween. Genüsslich nahm sie das Ding aus dem Karton und las geduldig die Anleitung, die glücklicherweise kurz und schmerzlos war. Als sie ihn auspackte, staunte sie. Nur ein Knopf, an dem man drehen musste. Und ein Klick und eine Drehung, um eine neue Gaspatrone ein-zusetzen.
Das einfache Leben muss sehr wohltuend sein.
Offensichtlich hatte ein guter, praktisch veranlagter Mann die Anleitung geschrieben. Sie verspürte Freude, die sich in Lust verwandelte, diesen Mann kennenzulernen und mit ihm zu ficken.
Fast jede Nacht träumte sie von Männern, die sie fickten, ihre Muschi leckten oder einfach nur am Strand etwas erzählten von ihren Chakras, während sie zuhörte und ihren Schwanz in den Mund nahm.
Im Wald fand sie immer die Ruhe, die sie brauchte, und machte Fotos von klitzekleinen Pilzen oder Hohlräumen im Wurzelwerk riesiger Bäume.
Zwei Tage nach Halloween machte sie eine besonders schöne Wanderung. Sie ging einen Bach entlang, der zu einem Wasserfall führte. Bei der ersten Wanderpause las sie die Zeitung und freute sich über Artikel, die Vernunft erkennen ließen.
In einem der Artikel ging es um die Provo-kationen eines französischen Satiremagazins gegen den Islam. Der Autor wollte eigentlich den Unter-schied zwischen Terror und Islam verdeutlichen. Ein positiver Ansatz. Eine gute Arbeit am Verdorbenen.
Man kann jede Religion verteufeln. Aber das Chris-tentum ist für die größten Genozide verantwortlich.
Die westliche Arroganz neigt jedoch zu professioneller Vergesslichkeit. Alzheimer passt insofern gut zu ihm. Dem Westen.
Im letzten faschistischen Seuchen-Sommer sind die Menschen kaum wiederzuerkennen.
Die meisten Männer werden meschugge. Sie schlagen einander die Köpfe ein, spielen Fußball, morden und vergewaltigen.
Die meisten Frauen rasieren sich den Kopf.
Indem sie sich eine Glatze scheren, schlagen sie zwei
fette Fleischfliegen auf einen Streich. Zum einen ent-fernen sie ihr Karma, um geläutert, leicht und schnell sterben zu können. Sie denken ständig an den Tod, weil die Zeit-Künstler der Medien die Hirne fluten mit der Botschaft, dass es im Leben nur um den Tod gehe. Früher dachten Frauen oder Männer «nur an das eine». Ficken war es früher. Heute ist es der Tod.
Der Champagner ist alle. Die Kondome sind leer.
Die zweite Fleischfliege, die geschlagen werden soll mit der Glatze, ist das Abwenden einer Vergewal-tigung, indem man total hässlich aussieht. Aber wie der französische Schriftsteller so schön geschrieben hatte, was zählt, bei einer Frau, ist nur die Muschi.
Bei manchen Männern verhält es sich genau um-gekehrt. Sie laufen mit Frauenkleidern herum, am liebsten tragen sie blonde Perücken und Miniröcke und lassen sich vergewaltigen.
Die wenigsten von ihnen, echte oder Möchtegern-Männer, bemühen sich aufrichtig, eine Frau zu er-obern und sie zu schützen. Es könnte die letzte Frau sein in ihrem Leben. Leben!
Nach zwei Monaten der Gewalt wird es den Menschen zu viel. Es treibt sie aus sich selbst heraus. Das Leben treibt sie – gegen den Tod.
Die Ersten, die sich bemerkbar machen, sind die jungen Leute. Sie tragen schwarze Klamotten, rotten sich auf öffentlichen Plätzen zusammen, provozieren, spielen laute Musik und tanzen.
Gute Besserung!
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Der Franzose geht spazieren. Sein Hund ist sein bester Freund. Er hat seine Seele gerettet.Samuel Beckett: Warten auf Godot.
Nikolai Gogol: Die toten Seelen.
Astrid Lindgren: Die Menschheit hat den Verstand verloren. Tagebücher 1939–1945.
Ulrike Meinhof: Die Würde des Menschen ist antastbar.
Nils Melzer: Der Fall Julian Assange.
Terry Pratchett: Die volle Wahrheit.
Ein großer Hack, die Cloud platzt.
Inmitten einer Zeit großer Unruhen
sucht eine Frau mittleren Alters
gesunden Abstand, Halt und
Sicherheit.