

Fuck Back Harder
Die Arbeit am Verdorbenen
FUCK BACK HARDER
DIE ARBEIT AM VERDORBENEN
Fuck Back Harder
1 In diesem Buch kommt das Wort «nicht» nur einmal vor.
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Copyright: Misty Memoir, 17. Juni 2022
Veröffentlicht auf free-ebooks.net.
« I m m e r w i e d e r ü b e r a r b e i t e n , e i n f a c h weitermachen. Schreiben üben. Schreiben, als ob es dein letzter Tag wäre.»
Ein Rat des französischen Schriftstellers, mit dem sie zwei Tage lang üben durfte
«Dieses Buch ist ein Halbmond.»
Junger, sportlicher Mann aus der Nachbarschaft
Aufwachen im Technofaschismus 14
Bedrohnte Menschheit
14
Tagebucheintrag
17
Daten, Taten und Geschichten
24
Sex in den Zeiten von . . .
28
Black Lives Matter
34
Frauen im 19. Jahrhundert –
40
verdammt und zugenäht oder
im Sanatorium
Cloud-Sklaven
43
Wurmlöcher und wie man Vampire killt 46
Blindes Schreiben
51
Der letzte Sommer
57
Literatur
63
Die Natur des Menschen wird häufig auf das Böse reduziert. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Das Böse ist einfach geschehen.
Ein Virus bedroht die Menschheit.
Wer weiß, was danach kommt?
Wer weiß, was zuvor gewesen ist?
Die Erinnerung war ausgelöscht worden. Sie war gespeichert in einer Wolke namens Cloud, die sich aus kristallinen Bits und Bytes zusammensetzte.
Und aus diesen setzten sich wiederum Daten, Taten und ganze Geschichten zusammen. Die Erinnerungen der Menschen steckten darin. Man hatte sich von allem losgelöst und es der Wolke übergeben, aus der Informationen bezogen werden konnten zu allem, was gestern war, vorgestern oder vor vierzig Jahren.
Nur hatte man mit der Zeit vergessen, was wichtig war. Prioritäten wurden ersetzt durch sinnlose Datenabfragen, mit denen sinnentleerte Statistiken zusammengewürfelt wurden, die wiederum einer Propaganda dienten, deren Zweck allein der Zweck war.
Erinnerungen an die Großmutter waren in der Cloud. Man wusste gerade einmal, dass diese Frau existiert hatte. Früher hatte man ein Bild von der Großmutter an der Wohnzimmerwand oder im Flur.
In der Zeit der Cloud gab es nur digitale Fotoalben.
Sie konnten jederzeit abgerufen werden, aber weil man seine Zeit mit dem Sich-Abfüllen mit Drogen aller Art verbrachte, um sich aus der technoiden Scheiße für einen Augenblick auszuloggen, fehlte letzten Endes die Zeit und auch die Lust, sich zu erinnern.
Wer die Daten und die Bilder seiner Biografie an die Cloud abgab, zahlte dafür Geld und hatte mehr Ruhe in seinem Leben. Das jedenfalls propagierten die Plakate in den Bahnhöfen.
Versicherungen schloss man online ab. Das Telefon wurde vom Internet abgelöst. Eine Sorge weniger. Der Vorteil war das einwandfreie Funktionieren des Menschen als Arbeitskraft. Die Cloud wurde zu seinem ständigen Begleiter des Alltags.
Die Daten machten sich selbständig und ar-beiteten – beziehungsweise sie erledigten Arbeiten für ihren Wirt. Mit der Zeit hatten sie ein be-denkliches Eigenleben entwickelt und begannen den Wirt zu bevormunden. Am Ende erledigten sie den Wirt. Er wurde zu einem Gemüse.
Die Daten «wussten», was gut war für den Wirt und sie wussten auch, was seinem Marktwert scha-den konnte. Dem Supercomputer zufolge war es das Beste für ihn, zu Hause zu sitzen und vor sich hin zu vegetieren. Cloud-Anhänger bewegten sich kaum.
Arbeit, Sport, Einkauf: Alles spielte sich, wenn überhaupt, zu Hause ab und höchstens noch im Vor-garten, wenn man denn einen hatte.
Sinnliche Begegnungen gab es selten. Hin und wieder kam es in den wenigen Vorgärten, die es noch gab, oder in Gartenschuppen zu spontanem, un-persönlichem Sex zwischen Nachbarn. Spontaner Sex war verboten. Wer Sex wollte, musste nehmen, wen der Supercomputer vorschlug.
In sogenannten Sex-Boxen durfte man diese Kandidaten vögeln. Das war sauber und steril und legal. Meistens nahmen Frauen diese Dienste in Anspruch.
Männer hatten es leichter. Sie hatten ein sogenanntes Wichshirn. Das Wichshirn war eine neu aus-gebildete Hirnregion der Cloud-Männer. Sie war eine sensationelle und rein zufällige abnorme Mutation,
die zunächst nur bei fleißigen Konsumenten von Pornofilmen auftrat. Das Wichshirn war eine Blase von der Größe einer Aprikose. Darin befand sich ein Gewebe, in dem die sexuellen Träume und Alpträu-me ihrer Besitzer gespeichert waren.
Mittels einer Hirn-Operation konnte Mann sich ein Plug-in einbauen lassen und sich mit einer Sexpuppe verbinden, die in der Folge genau das tat, was das Wichshirn von ihnen verlangte. Die Sexpuppen fühlten sich sehr echt an, sie sprachen wie Papageien und sagten alles, was ihr Wichs-Mann hören wollte.
Cloud-Männer waren also Soziopathen geworden.
Die Abschaffung der Frau war auf dem Vormarsch.
Am Ende hätte es nur noch Gummipuppen und ein paar Männer gegeben, und ganz am Ende . . . ?
Geklonte Menschen, die tot waren?
Dieser sehr wahrscheinlichen Entwicklung der Menschheit konnte nur einer oder eine ein Bein stellen: ein Hacker oder eine Hackerin.
Die Internet-Realität war so skurril geworden, dass die Menschen sich im Spiegel kaum mehr wiedererkannten. Im Jahr 2032 war es dann geschehen. Die Wolke zersplitterte wie ein verhasster Spiegel, dessen man überdrüssig geworden war. In der Wolke hatten sich alle Schatten der Menschen zusammengebraut zu einem üblen Gewitter. Es war höchste Zeit, dass ihr Daten-Abbild vor ihren Augen zerstört wurde.
Hacker hatten sich an der Wolke zu schaffen gemacht, an ihr gekitzelt. Da brach alles aus ihr heraus.
Die Wolke aus Daten, Taten und Geschichten löste sich auf in Regentropfen aus Bits und Bytes.
Aufwachen im Technofaschismus Offiziell ist es die Seuche, die als eine Art Brand-beschleuniger den Datenfaschismus ermöglicht. In Wirklichkeit findet ein Krieg gegen den Menschen statt. Sie sind auf der Jagd nach DNA und ewigem Leben.
Mit der Fratze des Todes im Nacken steht man in dieser Welt morgens auf und betrachtet im Spiegel ein Ich, das einem fremd geworden ist. Jeder könnte träger des Virus sein. Alle sind fiese Bazillenträger, eklige, wertlose Viecher. Man möchte den Knopf der Sprühdose mit dem Ameisengift drücken und sie auf sich selbst richten, sich selbst anzünden und sterben.
Aber der Überlebenswille ist nur schwer zu brechen.
Alles, was das System stört, wird ausgeschaltet.
Eine mRNA-Impf-Sonde übernimmt die Exekution.
Sie befindet sich irgendwo im Körper der nutzlosen Arbeitskraft. Wenn der Befehl der geizigen alten Männer kommt, setzt die Sonde den Körper ihres Wirts schachmatt.
Diese Zeiten waren irgendwann vorbei. Die Menschheit ist auf null gesetzt worden. Diejenigen, die sich aus der Cloud herausgehalten hatten oder nur mit einem Bein drinsteckten, haben überlebt und können noch ihren Enkelkindern davon erzählen.
Bedroh(n)te Menschheit
Die Daten sind eine einfache Sache. Geboren wurde sie am ersten Juni, genau wie Marilyn Monroe, die Hollywood-Schauspielerin, die möglicherweise von Bobby Kennedy, dem Bruder des damaligen
amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy, ermordet oder von ihm mit einer tödlichen Dosis Drogen vollgepumpt worden war. Vielleicht war es auch ganz anders. Es gibt da viele Theorien. Marilyn Monroe war eine der größten Sexbomben der Fünf-ziger- und Sechzigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts.
Unsere Frau, geburtstagsmäßig ein Zwilling von Marilyn Monroe, aber auch astrologisch gesehen ein Zwilling, ist alles andere als eine Sexbombe. Ihr Alter befindet sich im Bereich weiblicher Wechseljahre.
Das merkt sie daran, dass sich ihre angeborene Widerspenstigkeit stärker zeigt als sonst. Die Wechseljahre sind eine Art zweite Pubertät, die Frauen viele Möglichkeiten bietet, um sich zu entwickeln und sich den Sternen, die sie immer nur von weitem betrachtet durften, ein Stück zu nähern.
Sie ist gerade siebenundvierzig Jahre alt geworden. Die Quersumme der Anzahl der Buchstaben des Wortes siebenundvierzig ist sieben. Das ist für das System, in dem die Menschen zu leben glauben, un-erheblich. Sie selbst steckt nur mit einem Fuß in der Cloud. Leider muss man ein wenig von sich preis-geben und die Cloud füttern, damit sie einen in Ruhe lässt.
Man wird da hineingeboren, und man kann den Dreck nur überleben, wenn man ein Bein abgibt beziehungsweise es in die Cloud steckt. Die Cloud klebt ihr am Bein. Der Rest ihres Körpers ist unberührt. Während andere Fußfesseln tragen oder im Gefängnis sitzen, kann sie sich bewegen, wird aber von der Cloud überwacht.
Heiße Ware für dieses System ist der Finger-abdruck, das ist das Minimum, das man abgeben muss. Dann kommen die Iris, das Blut und die DNA.
Mit solchen Daten kann ein zweites Ich gebastelt werden. Ein Klon von einem selbst.
Sie kommen aus den Wolken herunter, surren, glotzen einem ins Wohnzimmer rein und sind hässlich. Sie hängen dämlich in der Luft, und man möchte sie abschießen. Drohnen. Mit Drohnen werden Menschen bedrohnt, bedroht, überwacht. Die Typen, die sich diesen Terror ausgedacht haben, machen ihr Angst. Diese geklonten, wichsenden Kryptogeld-Roboterfreunde. Olen Mucks zum Beispiel ist einer dieser Verrückten. Er nennt sich Technoking. Für sie sind sie einfach nur Schweine, digital-faschistische Schweine.
Beim Anblick der Befehlshaber der Roboter-fascho-Freunde, dieser knittrigen achtzigjährigen Blutsauger im Anzug, gefriert einem das Blut. Sie sehen aus wie Vampire. Diese Typen machen ihr beinahe genauso viel Angst wie die Dragqueens, die kleinen Kindern an die Wäsche gehen. Minderjährige Jungen in Frauenklamotten gehören in diesem System dazu. Genau wie die gierigen alten Männer, die mit Geld und ohne Herz regieren und Menschen hassen. Je mehr Geld sie haben, umso ärmer sind sie.
Dann kam die Seuche über die gesamte Menschheit. Sie kam den alten Männern in Anzügen gerade recht. Es wurde Angst verbreitet, und falsche Informationen gewannen die Oberhand.
Seitdem sind die Menschen gefügig geworden und befolgen alle Befehle der Cloud. Sie leben isoliert und einsam. Sie sind Sklaven der Cloud.
Der Journalismus ist am Arsch. Heute werden Daten aus Statistiken, Quantencomputern, Mit-schnitten von Gesprächen aller Art, auch privaten Gesprächen, abgesaugt und zusammengewürfelt, in einen Pott geworfen und getextet. Das Ergebnis des Datenjournalismus ist eine üble Suppe aus wilden Annahmen, die als Fakten verkauft werden. Das Wichtigste sind die Bilder. Die Menschen lesen nur die Schlagzeilen und betrachten vor allem die Bilder.
Wie Honigbienen surren die Drohnen am Himmel und sammeln Daten. Ob es Aufnahmen sind von Vögeln, die über einen Vulkan fliegen, oder von einer Verkehrsampel: Alles wird verwertet. Die Cloud ist ein blindes, allgegenwärtiges Auge. Es sammelt und zählt, und das Ergebnis ist die Zerstörung von allem, was erfahrbar hätte sein können.
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Tagebucheintrag am 15. Juni im
Digitalfaschismus
Verrückte Frauen sind schützenswert. Frauen wie Hildegard von Bingen, die vermutlich dem Feuertod als Kräuterhexe auf einem Scheiterhaufen entkam, indem sie in ein Kloster ging. So eine Bekloppte, die hin und wieder unter spiritistischen Eingebungen litt. Wahrscheinlich wäre sie sonst wegen Hysterie verdammt und zugenäht worden. Solche Frauen brauchen Schutz vor der Verfolgung. Viele Klöster haben unzählige solcher Frauen gerettet.
Ich fühle mich auch verfolgt und bin womöglich schuldig in den Augen des Systems. Warum? Weil ich auf die Cloud verzichte. Das macht mich verdächtig.
Die Cloud, das ist in der heutigen Zeit eine Art Freiheit. Nur bin ich vom Gegenteil überzeugt. Steht es mir frei, das zu glauben oder überhaupt zu denken?
Ich habe einen immer wiederkehrenden Traum.
Jedes Mal, wenn ich nur an den Traum denke, fügt er mir einen Schmiss zu, den ich hinterher nähen muss.
Ich bekomme Panik, weil der Traum zu echt ist.
Manchmal, wenn ich betrunken bin und mich in Sicherheit wähne, erzähle ich ihn meinen Saufkum-panen. Als Warnung sozusagen.
Der Traum ist zu lang. Die kurze Fassung ist, dass ich zusammen mit vielen Menschen verhaftet werde.
Wir sind alle ganz normal. Aber die Bullen finden bei jedem Einzelnen einen Grund für eine Verhaftung.
Die Begründung für meine Verhaftung ist, dass sie in meiner Hosentasche eine Geldmünze finden, auf deren Rückseite das Wort «Freiheit» steht. Ich bin selbst überrascht über diese Münze, die ganz zufällig in meiner Hosentasche gelandet sein musste.
Normalerweise steht dort statt «Freiheit» etwas anderes. Diese Münze war also falsch geprägt worden. Der Staat macht und prägt die Münzen. Alle Wege gehören sozusagen der Königin. Meine Frei-heitsmünze tanzte also ziemlich aus der Reihe.
Dieses unheimliche, tief gehende Gefühl der Angst vor Verleumdung und die Scham, zum Verbrecher abgestempelt und verhaftet zu werden, begleitet mich mein Leben lang.
Diesem Alptraum sind wir schon sehr nahe gekommen. Ein Terrorist namens Bill Greedy ist der Kopf einer Bioterror-Organisation, die im Winter des Jahres X zum ersten Mal einen Bioterror-Anschlag ausübte, der bis ins letztmögliche Detail geplant war.
Der Name der Gruppe ist sagen wir mal Y. Für mich heißen sie «Der Club der toten Wichser». Sie beten die größten toten Wichser der Welt an und sie zelebrieren schwarze Messen.
Diese Männer dürfen Menschen jagen, und sie werden dafür auch noch bewundert. Ihre Zielscheibe ist die DNA aller Lebewesen, die sie mit künstlicher Intelligenz ersetzen wollen. DNA, diese hübschen Gebilde mit den vielen bunten Treppenstufen, die ineinander übergehen. Watson und Crick. Alles Bull-shit. In Wirklichkeit ist es Gott, der uns bewegt.
Ein anderer Wissenschaftler hat herausgefunden, dass die Zellen auch ohne DNA funktionieren. Es
seien die Proteine und vor allem die an die Zellen übermittelten Gefühle und Informationen, die das Leben aufrechterhalten würden.
Dieser Bill Greedy hat sich den ganzen Planeten unter den Nagel gerissen. Der Club der gierigen Männer hat die Welt infiziert mit Materialismus und Menschenhass, an dem die Leute sterben wie die Fliegen, sei es an Krankenhausviren oder Krebs. Aus einem Krankenhaus wird man entweder tot entlassen oder krank gemacht, darum nenne ich es ja Krank-mach-Haus statt Krankenhaus. Dieser Club reguliert auch den Sex. Es darf nur mit Fick-Zertifikat gefickt werden.
Die Wahrheit findet man kaum in der Zeitung.
Wahrheit ist eben nur in der Gegenwart. Im Hin-einfühlen, das einen der Sache wirklich nahe bringt.
Ich will mich wegficken von dieser Tristesse. Nun, ich halte die Augen offen, aber ich habe Angst, und es kotzt mich an, überhaupt an Sex mit einem Mann zu denken. Bei mir ist der Ofen vorläufig aus.
Heute zog ein Mann sein Shirt aus und zeigte mir seine Narben. Er sei im Krieg gewesen, sagte er. Im Sudan. Neun Schüsse in den Bauch. Hallo? Und ein Streifschuss am Hals. Ich war schockiert. Er hat sich entschuldigt, weil er mich doch ein bisschen er-schreckt hatte. Aber er litt. Und es muss halt auch mal raus. Es war mir zu viel. Muss ich seine Narben sehen? Das ist eine Grenzüberschreitung. Warum hatte er sich die Brusthaare rasiert, fragte ich mich nebenbei. Heilt endlich eure Wunden und fangt an zu ficken.
Neulich schrieb ich die Namen meiner Fick-partner auf und versah jeden von ihnen mit einem kurzen Kommentar. Manche Namen habe ich schon vergessen. Einer war sehr gut. Sehr einfühlsam. Ich hätte gerne öfter mit ihm gefickt. Er kam aus Ex-Jugoslawien. Ich glaube aus Albanien. Er sah sehr
gut aus. Hatte ein sehr hübsches Gesicht mit einem schönen Lächeln. Null Gefahr. Ausgesprochen höf-lich, nett und ehrlich. Er sah wirklich verdammt gut aus, und er hatte Manieren!
Fuck, war der gut. Ein Gentleman-Fick-Gott. Er war besser als der Wikinger, aber viel zu jung für mich. Ich ließ die Finger von ihm. Sonst hätte ich ihn verdorben.
Als Bill Greedys Virus die ganze Welt in Atem und in der Wohnung eingesperrt hielt, hatten die Menschen viel Zeit für sich selbst. Viele starben. Sie starben an Panik, sie hatten Angst, ins Krank-mach-Haus zu gehen, oder sie starben einfach vor Hunger, weil sie ihre Arbeit verloren hatten, oder an Ver-einsamung. Kinder brachten sich um. Erwachsene auch.
Die Suizidrate der Kinder hatte sich verdoppelt.
Und während all das geschah, hörte ich an den Abenden Meditationsmusik und betete, um auf dem Boden zu bleiben. Ich nutzte die Zeit, um mir Gedanken darüber zu machen, was ich will.
Ich will ficken. Das ist einmal Nummer eins. Ich bin vielleicht zu alt für Sex. Aber ich will. Meine Brüste sind ganz okay und haben irgendwie eine niedliche Reife. Alles wird schlaffer und beginnt zu hängen. Runzeln machen sich bemerkbar. Das Fleisch wird schwach. Mein Body ist eher jungenhaft.
Aber mein Gesicht ist so androgyn komisch, ich sehe aus wie ein Pfannkuchenclown. Gemacht zum Lachen, meinte ein Mensch heute zu mir. Ich hasse Menschen. Ich meide sie.
Ich bin im Kloster. Mein Job ist mein Kloster, meine Zuflucht, meine Daseinsberechtigung. Ich bin schützenswert. Es ist die Arbeit im Verlag. Ich gehöre da so sehr hin, dass ich die Schmerzen liebe, die mir die Arbeit manchmal macht. Das alles wird sich eines
Tages ändern. Ich werde Sport machen. Und über kurz oder lang werde ich in die biologische Land-wirtschaft fliehen und mit der Erde arbeiten. Mein Körper hat zu viel Kraft, darum schmerzt er den ganzen Tag lang.
Der Club der Toten Wichser hatte uns in den Knast gesteckt, damit wir aufhörten, miteinander zu reden. Wir wurden vereinzelt wie Setzlinge in einem Pflanzen-KZ (Neusprech: Gärtnerei), die in einzelne Töpfe umgepflanzt wurden, wo sie dann allein wei-terwachsen sollten, während die Wichser auf sie her-unterwichsten. Ihre Wichse war unsere Sonne und auch unser Regen. Künstliche Wichs-Intelligenz.
Die Einzellisierung machte krank, ein früher Tod war sicher. War wirklich nur ein toter Mensch ein guter Mensch, wie der Leitspruch des Clubs heißt?
Oder einer, den man weiterverkaufen konnte? Wer bestimmte darüber und warum? Wer hatte die Zeit, um darüber nachzudenken?
Am meisten Zeit hatten die schmierigen Journalisten vom «Wahrheitsministerium». Die Demen-toren. Sie waren die Wächter des Narrativs. Sie de-mentierten die Wahrheit. Die Journalisten streckten die Zeit, machten einen lange Linie daraus und zogen sie sich in die langen Nasen.
Damals, als meine Chefin anrief und sagte, dass wir wieder im Büro arbeiten sollen, bekam ich Panik.
Nach sechs Monaten der Isolation löste bei mir allein die Vorstellung von Kontakt mit Menschen Panik aus.
Auf meinem Arbeitsweg kam ich an geplünderten oder geschlossenen Läden vorbei. Dann stieg ich in die Bahn und versteckte Mund und Nase vorschrifts-gemäß hinter einer Maske, um Lungenpilze zu züchten.
Während einer Pause rief mich meine Schwester an und sagte, sie hätten jetzt verboten, Geld von der Bank abzuheben. «Jetzt siehst du, wer Geld stiehlt!
Die Banken selbst: Der Banker ist der Bankräuber, kapier das endlich!», brüllte ich ins Handy.
Die Katastrophe nimmt ihren Lauf. Ich bekomme noch mehr Panik und rufe bei meiner Bank an. Der Banker beruhigt mich am Telefon und dementiert sich aus der Lüge heraus. Ich wünsche dem Demen-tor noch ein schönes Wochenende, was ich dann korrigiere. Wir haben erst Mittwoch. Offensichtlich liegen meine Nerven blank. Er muss mich für verrückt gehalten haben.
Nach langem Nachdenken über eine praktische Bedeckung meines Gesichts im öffentlichen Verkehr war ich zu dem Schluss bekommen, dass der Islam die Lösung bot. Er hat die beste Kopfbedeckung von allen erfunden, nämlich den Nikab. Leider hatte die chinesische Firma, bei der ich das Ungetüm bestellt hatte, meinen Kauf storniert, weil die Nikabs einen Produktionsfehler hatten.
Bei der ersten Zugfahrt zu Beginn der Seuche trug ich einen Mundschutz. Und auf der zweiten Fahrt ließ ich es bleiben. Immer öfter begegnete ich Menschen, die auf den Maulkorb verzichteten.
Ich hatte mich einmal mit solchen «Widerständ-lern» unterhalten, die ihr Gesicht zeigten und sich der «Maskenpflicht» widersetzten. Sie hielten das Virus von Bill Greedy für eine Lüge beziehungsweise für eine Ablenkung von etwas viel Schlimmerem, nämlich der Errichtung einer digitalen Diktatur. Ein Mann, der meinem Beuteschema entsprach, sagte, eine leichte Schläfenmassage sei hilfreich gegen Angst. Ich dachte mir: «Ficken auch, du Idiot.»
Die Seuche veränderte die Menschen. Viele brauchten Sex. Mein Gynäkologe war völlig ausge-
hungert, genau wie ich. Zwischen uns hatte es ge-knistert. Beim Ultraschall verhaspelte er sich immer wieder und glotzte wie gebannt auf meine Täto-wierungen. Ich hätte ihn sehr gern genommen. Am Abend tat ich es in Gedanken mit ihm auf der Liege.
Ein anderes Mal lutschte ich seinen Schwanz. Eine ganz natürliche Regung, die irgendwie ausgelebt werden muss. Mein französischer Schreiberling war der Ansicht, dass Frauen Sex brauchen, auch aus gesundheitlichen Gründen. Er hat recht.
Mein Dermatologe ist ein Mann, der ebenfalls in mein Beuteschema passt. Er ist Franzose und trägt außerhalb der Praxis einen Panamahut. Stil und Intelligenz hat er. Wenn er spricht, möchte ich ihm eins lutschen oder tief seufzen und ihn dann küssen.
Meine Flirtfähigkeiten sind praktisch null. Das liegt daran, dass ich in einer katholischen Mädchen-schule war. Ich stellte irgendwann fest, dass die Un-terdrückung meiner Geilheit mir einen lebens-länglichen Schaden zugefügt hat. Trotzdem ist es mir recht, diesen Knacks zu haben. Ich bin der Schule sogar dankbar dafür, dass ich Unterricht ohne Jungen genießen durfte. Vor allem in naturwissenschaft-lichen Fächern hat geschlechtergetrennter Unterricht enorme Vorteile für Mädchen. Jungen funktionieren da anders und sie lernen auch anders, vor allem was Naturwissenschaften angeht.
Meine Leistungen waren in den Naturwissenschaften relativ gut. Die Vor- und Nachteile koedu-kativen Unterrichts wurden mir bewusst, als ich ein Jahr lang eine gemischte Schule besuchte. Die Jungen habe ich beim Lernen als störend empfunden.
Besonders in naturwissenschaftlichem Unterricht. Es hat mir aber gut gefallen, neben einem Jungen zu sitzen und zu spüren, wie scharf er war und wie sehr er sich beherrschen musste. Vielleicht hatte ich mir das auch nur eingebildet und auf den armen Kerl
projiziert. Für mich waren Jungen immer eine andere Welt. Neben einem zu sitzen, fühlt sich gut an. Es ist eine angenehme Verbrüderung.
Daten, Taten und Geschichten
Sie meditiert, um alles gleichzumachen. Sie hört auf, zu bewerten. Die Ähnlichkeit des Buddhismus mit dem System ist erschreckend. Denn auch das System will alles gleichmachen. Es hat sich diese Technik beim Menschen abgeguckt. Seine Absicht ist es aber, aalglatte Bürger zu erschaffen. Erschaffen.
Das klingt fast göttlich. In diesen Etagen haben einige die Bodenhaftung verloren und halten sich für Götter.
Alles ist gleich. Drei Jahre lang war sie arbeitslos.
Auch das war eine Beschäftigung. Alles ist harte Arbeit, wenn man seinen Verstand behalten möchte.
Ihr Motiv, alle ihre Taten gleichzumachen, ist ein anderes, und zwar möchte sie den Schmerz besei-tigen, der, wie sie glaubt, entsteht, wenn sie Geschichten Revue passieren lässt und sie mit ihrem jetzigen Schmerz in Verbindung bringt. Dabei ist ihr Schmerz echt. Die Taten von früher benutzt sie, um den Schmerzen ein Gesicht zu geben.
Taten regnen nieder und wässern den Boden. Sie versickern, sobald sie die Erde erreichen. Geschichten sind die Blumen, die aus der Erde sprießen. Eine hässlicher als die andere. Jedenfalls in digitaler Form. Alles Menschengemachte ist hässlich. Jedes Ding ist nur ein Hilfsmittel, um zu überleben, um Feuer zu machen, um auszuweiden, um Gemüse zu
schneiden. Selbst Kunst ist ein Hilfsmittel, um etwas zu begreifen, um zu suchen oder zu finden.
Tiere sind da anders. Es wird gegessen, es wird irgendwo hingeschissen. Ein Nest wird gebaut, und wenn es seinen Dienst getan hat und die Jungen flügge geworden sind, zerfällt es von selbst. Es ist organisch und umweltfreundlich. Anders als der Mensch, der sich überall breitgemacht und mani-festiert hat mit seinem Müll, der jahrzehntelang liegen bleibt, und mit seinen vielen «Ego-Satelliten»
– vom Privatjet, dem eigenen Spaceshuttle übers Auto bis hin zum eigenen Kind, das mehr ein Projekt als ein Ausdruck von Liebe ist.
Der Regen fällt, es ist Frühsommer. Daten, Taten und Geschichten gehen nieder und verlieren sich.
Was wirklich zählt, ist die Liebe und der Champagner. Es geht selbstverständlich auch ohne Champagner. Champagner geht auch ohne Liebe. In ihrem Leben war mehr Champagner als Liebe.
Die Cloud ist eine schlechte Kopie der Wahrheit.
Immer wieder stecken die Menschen ihre Köpfe in sie hinein, um darin herumzuschnüffeln wie an alten Socken oder Unterhosen. Im Nebel der Cloud fehlt der Durchblick. Man setzt Fixpunkte und konstruiert eine Geschichte daraus.
Im Grunde hängen alle in dem Nebel der Wolke fest. Darin finden sich nur Daten, Taten und Augen-blicke, die in Nullen und Einsen gesplittet sind, in gleich große Wassertröpfchen. Der einzelne Tropfen ist glasklar. Ein Nebel aus Wassertropfen aber be-nebelt dich und macht dich blind.
Alle Menschen gehören geschützt. Darum finden sich manche auf der einen oder anderen Demonstration zusammen, wo es um den Schutz von Menschen oder Tieren oder Pflanzen geht.
Eine Demonstration ist weder für noch gegen etwas, sondern eine Vorführung, eine Theaterauf-führung mit Dämonen. Sie ist eine Dämonstration.
Wenn sie zu einer Demonstration geht, ist sie ein Geist des Dämons. Ein Klon ihrer selbst, eine Stell-vertreterin für die Menschen, die aus ehrenwerten Gründen Demonstrationen fernbleiben, weil sie zu Hause kochen oder woanders sein müssen. An einer Demonstration ist sie die Kopie der Manifestation der totalen Unzurechnungsfähigkeit von menschlichen Wesen und tut ihre Pflicht. Genau wie die Polizisten ihre «Seite» oder ihre «Firma» und, wenn sie überzeugte Bullen sind, vielleicht sogar sich selbst vertreten. Da sind irgendwelche Überzeugungen am Werk, die einander bekämpfen.
Sie ist nur eine Frau und hält ihre Klappe. Seit zwei Jahren ist sie keusch. Jedes Mal, wenn sie damit begann, etwas wirklich Gutes für sich zu tun, lernte sie einen Typen kennen und ließ die angefangene gute Sache liegen. Diesmal wird es anders sein, sagt sie sich.
Manchmal muss sie an «den Wikinger» denken, dieses blonde Muskelpaket, mit dem sie einmal zusammen war. Er hat einen geilen Arsch, einen fetten Schwanz und tolle Oberschenkel. Und seine Hackfresse möchte man eigentlich lieber von hinten sehen beim Ficken. Der Gedanke an ihn lenkt sie ab und verschafft eine kurze Erleichterung. Er stoppt ihren Ekel vor dem eigenen Schweiß.
Manchmal möchte sie einen Joint kiffen. Sie tut alles, um zu überleben. Um sich wieder leicht zu fühlen wie ein Kind. Laute Musik und Alkohol.
Drogen helfen, um zu überleben. Man meldet sich kurz ab und geht woanders hin, macht sozusagen einen Spaziergang, und wacht an einem anderen Ort wieder auf. Unter Drogen steht man kurz auf einem
Berg und sieht aufs Tal der Schweinemenschen herunter, schreit – und steigt wieder hinab, um die Scheiße weiter über sich ergehen zu lassen und sie lieben zu lernen, die Menschen, was oft zeitweise gelingt.
Es gab in den Siebzigern eine Schwemme von beschissener Drogenliteratur, die wahrscheinlich aus einem kollektiven Leidensdruck entstanden ist und sich in verdrogten Kanälen auf Papier herabgewichst und ergossen hat, während man die Substanzen im Vietnamkrieg an Soldaten testete. Jeder, der über Drogen schrieb, hatte Tourette in den Fingern, und glaubte, Superkräfte zu haben.
Seit dem letzten Winter malt sie. Manchmal tun ihr die Hände weh, wenn sie ihre Wut mit aller Kraft aufs Papier drückt. Es tut gut, und es entsteht etwas dabei. Wenn es eine Struktur hat, ist es gut. Muster und Strukturen sind ein Abbild des Lebens.
Sie ist fest entschlossen, weiterzuleben. Während der Epidemie hatte sie darüber nachgedacht, wie und ob sie weiterleben wollte. Auch über den Tod hatte sie nachgedacht. Sie schaute ihn an, den Tod, und fragte ihn, ob er die Epidemie ernst nehme. Er sagte Nein. Also lebte sie weiter, von Tag zu Tag, wurde älter und brauchte schon bald eine Lesebrille. Die Zeiten der Sexiness sind aus der Mode gekommen, Lesebrillen sind okay. Und jetzt kommt Champagner ins Spiel.
Eine ihrer Champagnerwolken war ebender, von dem sie eine Mail bekam. Er ist Franzose und schreibt Bücher. Vor ein Paar Tagen schlug bei ihr der Blitz ein und sie schrieb ihm: «Alles ist eine Geschichte. Und zwar eine Geschichte, die dazu da ist, um daraus Kohle zu machen.» Er hatte ihr vor vielen Jahren einen intensiven Schreibkurs gegeben. Und
nun hatte sie ihn gefragt, ob sie aus ihrer Idee Kohle machen oder verlieren konnte.
Sein champagnerfarbenes Sperma steckte damals übrigens in einem Kondom.
Sex in den Zeiten von . . .
Seit mehr als einem Jahr sterben täglich Tau-sende Menschen an der Giftspritze, die Bill Greedy, entwickelt hat gegen die Seuche, die den Planeten in Atem hält, beziehungsweise sie sterben an den Folgen der Schutzmaßnahmen, die ihre Gesundheit ruinieren. Oder daran, dass sie ihre Lebensgrund-lage, ihre Arbeit verlieren. Sie hungern, leiden, sind vereinsamt völlig, und manche bringen sich des-wegen um.
Besseren Schutz genießen, so scheint es, diejenigen, die Geld haben. Wenn sie es richtig anstellen, gelingt es vielen sogar, sich an der Seuche zusätzlich zu bereichern.
Inzwischen ist der Mittelstand wegen des Wertverlusts des Geldes und des Wertverlusts der Arbeit vollkommen zusammengebrochen. Die Wirtschaft bricht zusammen, wenn der Mittelstand zusammen-bricht. Der Wirtschaftsfaktor Nummer eins, der Mensch, wird mit in den Abgrund gerissen, der bis dahin ein imaginärer Abgrund war, weil er nur auf dem Papier beziehungsweise in der Cloud existierte.
Die Wirtschaft hielt sich bis zum Wolkenbruch der Cloud und der Pandemie immer für ein Wesen mit einem Eigenleben. Jede Arbeitskraft ist eine Prostituierte, die ihre Arbeit feilbietet, ein Geschäft, das etwas verkauft. Der Mensch, der Verkaufende und sich selbst verkaufende, ist die Wirtschaft selbst.
Er kauft und wird gekauft. Er ist ein Leibeigener des Staates. Jedes Jahr drückt er dem Staat zum Dank für die Haltung im Arbeitskäfig eine Art Arbeits-vermittlungsgebühr in Form von Lohnsteuer ab. Der Mensch, die Prostituierte, gibt seinem Zuhälter noch seinen Anteil auf die Hand. Das ist Sklaverei.
Die Milliardenverluste, verursacht durch die Seuche und Folgen der Berechnungen, Statistiken und Vorhersagen der Cloud-Supercomputer führten dazu, dass den Menschen vorgeschrieben wurde, wie sie leben sollten.
Geld war ein Problem, das sich mit der Zerschla-gung der Cloud auflöste. Das Gute an der Cloud war, dass sie eine reine Fantasie war. Ohne sie wurde das Leben für eingefleischte Cloud-Junkies jedoch sehr langweilig. Sie mussten über kurz oder lang den Cloud-Mindfuck durch etwas Echtes ersetzen.
Das Stärkste, was echt ist – neben absoluter Be-scheidenheit und einem friedlichen Augenblick von Ewigkeit abseits jeglichen Selbstbetrugs dieser Dimension des Menschseins – ist Sex. Und der ist so hart und echt wie ein Phallus in höchster Erregung.
Es wurde viel und frei gebumst, um die Entzugs-erscheinungen zu lindern, um ins Leben zurück-zukommen. Man fickte sich zurück. Natürlich gab es auch andere Sachen. Bessere sogar als bumsen.
Beten, arbeiten und lachen gab es auch. Doch die Hardcore-Wichshirn-Junkies mussten bumsen, um sich auf null zu setzen.
Sie möchte ihre Wut auf null setzen. Doch schreien ist verboten. Also atmet sie tief ein und aus und entdeckt das Wahre.
Sie lernten sich vor vielen Jahren im Internet kennen – und sie fanden sehr schnell den Weg ins Bett. Sie holte ihn am Flughafen ab. Es war Weih-
nachten. Das Christkind war gekommen. Er rauchte viel und tut es natürlich immer noch. Sie küssten sich und fuhren mit dem Zug zu ihr. Sein tarnfarben-grüner Koffer hatte dummerweise vier Räder und rollte während der Zugfahrt mit jeder Kurve mit. Er hielt den Koffer fest, wenn er zu rollen begann. Seine Haut glänzte wie Wachs und hatte eine ungesunde Farbe.
Sie hatte für teuren Rotwein gesorgt, weil er Franzose ist, und sie sprachen über seine Bücher. Sie bekam einen intensiven Schreibworkshop. Dazu kam Sex, skandalöser Sex. Das Hübsche daran ist die Freiheit, die in einer solchen Begegnung steckt. Es war so, als ob sie ganz allein waren auf der Welt.
Beide hatten ein geringes Selbstwertgefühl, einfach aus dem Grund, dass ihnen das Selbst verdammt fremd war. Es wurde gefickt um des Fickens willen.
Eine saubere Sache, die sie überrascht hatte und immer wieder überrascht, wenn die daran zurück-denkt. Es war wie Händewaschen oder Kochen.
Gehört dazu, wird gemacht. Im Schwanz steckt ein ganzes Universum aus stummem Sperma. Eigentlich sind Männer die Geber. Sie geben Sperma. Sie ver-stummen beim Sex. Leise dringen sie ein. Leise ziehen sie ihren Schwanz wieder heraus. Sie geben den Lebensfunken. Die Frau macht hinterher den anstrengenden Rest des Austragens der Frucht. Der Mann ist Erster in Sachen Leben. Doch das Universum, das in seinem Sperma steckt, ist doch etwas karg und irgendwie kümmerlich. Die Eizelle ist we-sentlich größer als das Spermium. Das hat sicherlich einen Grund.
Am dritten Tag reiste der stille Schriftsteller ab.
Bevor er ins Taxi stieg, sagte sie ihm, dass ich ihn liebt. Es war eher ein Flüstern, aber hörbar.
Er stieg ein und fuhr fort. Sie fühlte sich leer, rauchte einen Joint und begann, ihre Wohnung komplett umzustellen, anstatt zu weinen. Er fehlte ihr wie ein Kind, das einem genommen worden war.
Am nächsten Tag schickte sie ihm Fotos von ihrer Wohnung. Das Ergebnis gefiel ihm. Nach ein paar E-Mails war der Kontakt eingeschlafen. Er war ver-heiratet und befand sich mitten in einer Scheidung.
Das Einzige, was er dazu sagte, war, dass der Hund ein Streitpunkt sei.
Damals hatte er einen Hund und wahrscheinlich hat er auch jetzt einen. Heute kam seine Antwort, die einen ihrer im Sterben liegenden Anteile zum Leben erweckte. An diesem Morgen war sie mit einem Gefühl von Traurigkeit und Wut aufgewacht.
Das Leben hatte an ihrer Tür geklopft, die sie für einen Sargdeckel gehalten hatte. Sie öffnet den Sargdeckel, steht auf und geht in den Flur, wo der Kühl-schrank steht. Darauf sind zwei Kochplatten. Bis dahin sind es drei Schritte. Der Flur ist gleichzeitig ihre Küche. Von dort bis zum Bad sind es noch einmal vier Schritte. Ein Zombie schaut sie aus dem Spiegel an. Ihre Augen sind geschwollen, und sie überlegt, wie sie wach werden könnte. Wach zu werden, ist etwas völlig anderes, als nur aufzustehen.
Nach einem kurzen Spaziergang isst sie eine Mango zum Frühstück. Dann fastet sie bis zum Abend. Intervallfasten nennt sich das. Ihre Arbeit erfordert nur den Einsatz des Verstands und ist sehr gut bezahlt. Hungrig zu arbeiten, erhöht ihrer Meinung nach die Konzentration.
Mit Mangofasern zwischen den Zähnen liest sie seine Mail. Er kann sich sehr gut an sie erinnern.
Mittlerweile ist es vierzehn Jahre her. Er schreibt, dass er unbedingt wieder mit ihr ficken will. Sie antwortet ihm, Macht aber einen Bogen um das Thema Ficken, so gut es geht, und lamentiert stattdessen
über ihr schlechtes Französisch, was zu einem Miss-verständnis geführt hatte. Sie hatte gedacht, dass ficken und küssen ein und dasselbe Wort sei im Französischen. Baiser.
Er ist der Meinung, dass ficken auch gegen De-pressionen hilft. Und dass sie ihm helfen könne, weil er seit kurzem Angst habe vor dem Tod.
Im Bad putzt sie ihre siebenundvierzigjährigen Zähne mit Zahnpasta von Dr Hauschka. Zwei ihrer Zähne sind tot. Sie kann die Angst vor dem Tod also sehr gut nachvollziehen. Bei ihrem letzten Zahnarzt-besuch hatte sie den Tod gerochen, er war ihr regel-recht in die Nase gekrochen. Bei den Bohrarbeiten in ihrem Backenzahn stieg plötzlich dieser penetrante, hochpeinliche Geruch hoch, und sie schämte sich vor der Ärztin, deren feine Finger in Latexhandschuhen in ihrem Mund herumfummelten. Es war der Geruch ihres Körpers, der von gierigen Bakterien zersetzt worden war.
Sie begann zu verstehen, warum manche sich gern die Zähne in Thailand machen ließen. Wegen der feinen Hände der Thailänder. Trotz Latex und zarten Fingern fehlte bei dieser Behandlung leider jede Spur von Erotik.
Sie putzt ihre Zähne seitdem sehr vorsichtig und liebevoll und hofft auf ein Wunder. Wenn das, was von ihren echten Zähnen noch übrig ist, bis zum Schluss mitmacht, kann sie sich glücklich schätzen.
Der Schmerz, den sie wirklich fühlt, hat mit den Zähnen wenig zu tun. Ihr ist alles weggebrochen, und sie verliert alles, was mit der Vergangenheit zu tun hat. Jeden Morgen wacht sie mit einer vollen Pralinenschachtel auf, die sie essen muss, bis ihr davon übel wird. Am nächsten Morgen ist sie wie durch ein Wunder wieder voll. Voll mit Scheiße. Die Vergangenheit ist wie ein neues Reifenprofil, das man abfahren muss mit laut quietschenden Reifen.
Eine Zwangserkrankung. Wie Nägelkauen, Rauchen oder schamanischer Schnupftabak, der einem die Nüstern zuklebt, und sie pfeift sich weiter voll mit dem Zeug, weil das Dasein zeitweise unerträglich ist.
Der Wikinger muss her. Der Wikinger fickt nur diejenigen, von denen man die Finger lassen sollte.
Er fickt alles, was ihm unter den Schwanz kommt.
Die Praktikantin, die Verkäuferin, die Kundin. Der Wikinger stopft allen Frauen der Welt das Maul, die in der Hierarchie unter ihm stehen. Er hält sich für den Größten, also stehen alle Frauen unter ihm. Bis auf seine Chefin. Vor ihr hat er zu viel Respekt.
Selbstverständlich ist es für ihn ein Problem, dass eine Frau über ihm steht. Der Wikinger hat seine eigene Vorstellung vom Mannsein und vom Helden-tum. Er ist blond. Innen wie außen.
Wenn er seinen Schwanz in einen Mund hinein-schiebt wie einen Hotdog, genießt er einen Augenblick, an dem ihm eigentlich wenig liegt. Während der Schwanzmassage driften seine Gedanken ab zum nächsten Casting für einen B-Klasse-Film mit abge-halfterten ehemaligen A-Klasse-Darstellern wie Gary Oldman. Er ist Schauspieler von Beruf.
In den Filmen, in denen er mitspielt, hat er meistens sehr wenig zu tun. Mal ist er nur Statist oder er spielt einen Riesenidioten, der nur ein oder zwei Sätze zu sagen hat. Er spielt Riesenidioten, weil er ein Riese ist – fast zwei Meter groß – und ein Idiot.
Auch im wirklichen Leben spricht er wenig oder starrt einen fies an. Er spielt also sich selbst.
Aber eine solche Rolle überhaupt zu bekommen, das ist die eigentliche Leistung des Wikingers. Das Casting ist für ihn der größte Nervenkitzel. Dann blüht er voll auf und plappert bis zum Erröten. Der nächste Schritt ist natürlich Analsex mit dem Regis-
seur, wenn man Glück hat, und wenn man Pech hat mit dem Kameramann.
Zu Hause ist er immer allein. Er hat Telefon-nummern, die er anrufen kann. Eine davon ist sie.
Sex mit dem Wikinger. Das ist eine gute Sache, weil es beim One Night Stand geblieben ist. Am Telefon streiten sie sich, Sex hatten sie nur ein Mal. Sie weiß dieses Glück, links liegen gelassen zu werden wie ein Stück Scheiße, kaum zu schätzen und wartet immer noch auf einen Fick. Sie ist stundenweise verliebt in ihn, den Mann für – einsame – Stunden.