Märchen aus Korea by tr.Hans-Jürgen Zaborowski - HTML preview

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2. Die Jadeflöte




In alten Tagen lebte einmal ein Minister, der hatte keine eigenen Kinder, die unter seiner Obhut aufwachsen konnten. Er machte sich deshalb große Sorgen. Doch eines Nachts erschien ihm im Traum ein weißer Geist. »Weil du in höchstem Maße aufrichtig bist — geh unter den Felsen am Berg hinter dem Dorf, du wirst etwas finden, wonach du lange gesucht hast!« sagte er und verschwand wieder. Der Minister erwachte aus seinem Traum, und kaum dämmerte der Tag, ging er schon zu dem Ort, den der Geist ihm genannt hatte. Dort blühte eine Blume, von der er nicht einmal den Namen kannte.

Die Blume pflückte er, nahm sie mit nach Hause, kochte einen Sud davon und gab ihn seiner Frau zu essen. Da zeigten sich bald Anzeichen, daß sie ein Kind erwartete. Tatsächlich gebar sie einen Sohn. Der war überaus hübsch, und so gab man ihm den Namen Migyóng. Wenn man ihn berührte, mußte man Angst haben, er verschwindet; wenn man blies, mußte man fürchten, er fliegt davon — so wuchs er als ein verhätscheltes Kind auf. Je größer er wurde, um so klüger wurde er auch. Der Minister mußte sich selbst immer wieder wundern darüber.

Andere Dinge kann man verlieren, doch wenn man ein Kind verliert, mag man nicht mehr leben. Als Migyóng sieben Jahre alt war, kam eines Tages ein Mönch mit seinem Bündel über dem Rücken vorbei. Migyóng hörte draußen vor der Tür dessen Stimme, wie sie Sutren aufsagte. Er schöpfte Reis und ging hinaus. Der Mönch betrachtete sein Gesicht ganz genau, er nahm den Reis nicht an, murmelte erschreckt etwas wie »bedauernswertes Kind« und ging weg.

Weil das ganz eigenartig war, berichtete man es sogleich dem Minister, der beauftragte einen Diener, den Mönch zurückzuholen. Anfangs gab der Mönch vor, nichts zu wissen, doch dann erzählte er, der Knabe werde, kaum zwölf Jahre alt, von einem Tiger gefressen werden. Der Minister erschrak darüber sehr, voller Trauer fragte er, ob es keine Rettung geben könne. Die Antwort war — der Knabe müsse dem Mönch nachfolgen. Da es keinen anderen Ausweg gab, schickte der Minister den Kleinen mit dem Mönch mit. Damit er aber später beweisen konnte, daß er der Sohn eines Ministers sei, gab der Vater ihm ein großes, mit Gold und Silber durchwirktes Kleid. 

Migyóng, der dem Mönch nachfolgte, lebte von da an in einer kleinen Einsiedelei mitten in den Bergen. Am Tag sammelte er Holz, und in der Nacht verwandte er seine ganze Kraft auf das Studium. Der Mönch, der sehr viel von ihm hielt, gab ihm einen neuen Namen. Er nannte ihn Tugodugogóji, das heißt: Einer, der lange in den Bergen bleibt.

Einige Jahre waren vergangen, als eines Tages der Mönch Tugodugogóji leise zu sich bat. Er sagte zu ihm: »Verlaß mich jetzt!« und gab ihm eine Jadeflöte. Dann machte er für ihn noch ein Gedicht, das er beim Weggehen auswendig lernen sollte, und verschwand.

Als der Meister ihn aus seiner Nähe weggeschickt hatte, lernte Tugodugogóji das Gedicht auswendig. Dann machte er sich fertig, irgendwohin zu gehen, doch es wurde schon dunkel. Also schlief er mitten im Wald.

Im Traum erschien ihm ein Höllenbote, der sagte, er sei unterwegs, um einen gewissen Migyóng, Sohn eines Ministers in der Hauptstadt, zu holen. Aber er wolle statt dessen lieber jemanden in der Nähe fangen, der Weg in die Hauptstadt sei ja, ach, viel zu weit. 

Erschrocken wachte Tugodugogóji auf und lief eine Weile. Es wurde Morgen, und er hatte Hunger im Bauch und Blasen an den Füßen; es blieb ihm nichts anderes übrig, er ging in ein Dorf und suchte sich das allergrößte Haus. Dort bat er dringend darum, hier dienen zu dürfen. In diesem Haus gab es so viele Leute, daß man sie gar nicht zählen konnte. Er wurde trotzdem angenommen; seine erste Aufgabe war es, den Abtritt sauberzumachen. Dann fiel er dem Hausherrn auf, und er übergab ihm eine andere Arbeit. Nun fütterte er die Pferde. Tugodugogóji trieb dazu die Pferde hinaus, bis weit in die Berge hinauf. Dort nahm er seine Jadeflöte heraus und blies darauf, auf einem prächtigen Roß saß er und spielte mit den anderen Pferden. Als der Hausherr sah, daß jedes einzelne Pferd dabei gedieh, war er sehr zufrieden.

Als einige Zeit später der sechzigste Geburtstag des älteren Bruders des Hausherrn näherkam, schien das ganze Dorf durcheinanderzugeraten. In diesem Haus stritt die ganze Dienerschaft miteinander, jeder wollte in das Festhaus gehen. Tugodugogóji sah das mit an, und er sagte, daß er gerne zurückstehen wolle.

Als der Festtag gekommen war und alle aufbrechen wollten, rief die älteste Tochter Togodugogóji und ließ ihn ein Pferd herbeischaffen. Doch als er dann das Pferd brachte, da meinte sie recht unwillig, wie sie denn das Pferd besteigen solle. Sie hieß ihn sich niederbeugen, dann hinhocken, trat auf seinen Rücken und bestieg so das Pferd.

Da bat Tugodugogóji sie: »Habt doch Mitleid mit mir, bringt mir nur ein paar Reiskuchen mit!« Aber die älteste Tochter schrie ihn an: »Was sind denn das für Manieren der Herrschaft gegenüber?«

Die zweite Schwester machte es genauso wie die älteste. Weil er dachte, die jüngste Schwester werde es genauso halten wie die beiden älteren, warf er sich gleich auf den Boden — doch sie sagte: »Ihr seid doch ein erwachsener Mann! Was ist das für ein Verhalten?« und bestieg allein ihr Pferd. Und als er sagte: »Habt doch bitte Mitleid mit mir armem Tugodugogóji, ich muß ja allein Zurückbleiben. Bitte, bringt mir auf dem Rückweg wenigstens ein paar Reiskuchen mit!« — da lächelte sie nur.

Tugodugogóji, allein im Haus zurückgeblieben, salbte seinen Kopf mit Kamelienöl, wusch sich mit duftendem Wasser, holte das mit Gold und Silber durchwirkte Kleid hervor, das ihm der Vater gegeben hatte, und zog es an. Dann blies er seine Jadeflöte, rief so ein Drachenroß herbei, bestieg es und eilte zum Geburtstagsfest. Der Himmel öffnete sich, von dort hernieder zum Festhaus stieg Tugodudogóji, alle warfen sich auf die Erde, weil sie glaubten, der höchste Jadekaiser selbst beehre sie mit seinem Besuch.

Im Festhaus angekommen, sprach Tugodugogóji würdevoll: »Kaum habe ich gehört, daß Feste in diesem Haus sehenswert sein sollen, habe ich alles stehen und liegen lassen und bin gekommen, mir diese Menschenwelt anzusehen. Bitte, seid mir deshalb nicht böse!« Alle im Haus glaubten, ein Gott sei zu ihnen heruntergekommen, und voll Freude sprangen und tanzten sie herum.

Jedoch der jüngsten Tochter erschien die Sache von Anfang an verdächtig, sie hatte den Eindruck, ihn schon einmal irgendwo gesehen zu haben, und so trat sie neben den Gott. Sie tat, als ob sie ihm Wein einschenken wollte, doch dabei schnitt sie ihm ein wenig von seinem Kleiderband ab. Das Stückchen Band wickelte sie zusammen und verbarg es sorgfältig an ihrem Busen.

Der Gott trank eine Zeitlang Reiswein mit ihnen, dann lehnte er ihn ab, rief sein Drachenroß, bestieg es, beim Aufbrechen blies er seine Flöte — und dieser Klang war irgendwie so traurig, daß es niemanden gab, der nicht geweint hätte.

Als die jüngste Tochter nach Hause zurückgekehrt war, rief sie Tugodugogóji herbei, holte ein Messerchen aus dem Kleid, hielt es sich vor ihr Herz und verlangte, er solle nun erklären, wer er sei.

Da blieb ihm nichts anderes übrig, er erzählte alles.

Als die jüngste Tochter versuchte, ihr Stückchen Kleiderband einzusetzen — da paßte es. »Geliebter«, sagte sie und fiel vor ihm auf die Knie — und der Hausherr, der das gerade von draußen erspähte, der erschrak gewaltig. 

Doch als dann Tugodugogóji von Anfang bis Ende alles erklärte, war der Hausherr einverstanden und stimmte einer Heirat zu. Die Ehe wurde geschlossen, und als die Feier zu Ende war, die beiden Jungverheirateten auf das Drachenroß stiegen und wegritten, da kletterten die älteste und die zweite Tochter sogar auf das Dach, um ihnen nachzusehen. 

»Warum haben wir das nicht früher geahnt?« fragten sie sich voller Schmerz — und stürzten sich schließlich in die Tiefe und starben. Seit dieser Zeit wachsen auf dem Dach zwei Pilze, die Leute sagen, das seien die Seelen der beiden jungen Mädchen.