

Mappa mundi:
eine mittelalterliche „Miniaturwelt“
im Schweizer Drei-Seen-Land?
Bild: „Die ganze Welt in einem Kleberblatt“ (meinte Kleeblatt), von H. Bünting 1581,
Jerusalem ist im Zentrum der Karte, umgeben von drei Kontinenten; Bild gemeinfrei
Im Mittelalter sah man Jerusalem als Zentrum oder den Nabel der Welt, oder der in Europa damals bekannten Welt :-) Und in vielen Regionen Europas hat man in diesen Zeiten Pilger- oder Prozessionswege angelegt, die eine „Reise nach Jerusalem“ in Miniaturform darstellten bzw. als verkleinerte Versionen einer Pilgerreise dorthin galten. Viele Orte in Europa wurden Jerusalem geheissen, wir finden auch zahlreiche Bethlehems und sogar Jordan-Flüsse (so auch z.B. bei Bern, siehe dazu mein Video „Reise nach Jerusalem – bei den Deutschrittern von Bern“). In einem anderen Video suchte ich kürzlich Spuren & Indizien für eine weiteres mittelalterliches „Jerusalem-Backup“ beim Jolimont, am Bielersee in der Schweiz: „Jerusalem am Jolimont“. Dies in Form einer „sakraltopografischen“ Alternative zum echten Jerusalem, gemeint als regionale Aufwertung bzw. Legitimation der eigenen Herrschaft, denn wer damals etwas auf sich hielt, sah seinen Machtbereich ebenfalls im „Zentrum der Welt“: Ein selbstbewusster Herrscher bzw. Hochadeliger liess sich da nicht lumpen, und hat oft viel Planung und Energie in seine Machtträume reingesteckt ;-) Und wenn möglich, mit Jerusalem im Zentrum seiner „kleinen Welt“. Auch, um vor Untertanen wie auch vor Konkurrenten sichtbar zu unterstreichen, dass die eigene Herrschaft eben „gottgegeben“ war...
Bild links: schematische Darstellung mittelalterlicher Weltkarten, aus „Meyers Konversationslexicon“, 1888; Bild rechts:
eine TO-Karte von 1110, wiederum Jerusalem im Zentrum, beide Bilder gemeinfrei
Natürlich waren die damaligen Weltkarten nie exakt oder geografisch akkurat, und auch nicht so gemeint: vielmehr waren sogenannte „Radkarten“ beliebt, auch „TO-Karten“ geheissen, dazu Zitat Wiktionary:
„Der bewohnte Teil der Erde, Ökumene genannt, erscheint darauf meistens dreigeteilt; das üblicherweise
angewandte Modell war das sogenannte T-O-Schema, dessen Aufbau auf Isidor von Sevilla zurückgeht: In
einen Kreis, bei dem der Osten respektive der Orient oben steht ,
ist ein T eingefügt, das einerseits für das Kreuz Christi, andererseits für die Grenzen
zwischen den drei Kontinenten steht.“
Und im Zentrum dieses gedachten „Weltrades“ oder der „mappa mundi“ stand natürlich immer Jerusalem, die Heilige Stadt, der Nabel der Welt, dort wo sich Himmel und Erde berühren. Was auch lokale Herrscher, wenn möglich, in ihrem Machtbereich anzulegen suchten. Natürlich wurden die damals geläufigen „mappae mundi“, also Karten der Welt, eher geistlich bzw. symbolisch verstanden und auch so angelegt. Und da konnten gewisse Städte, Landstriche und Regionen auch mal an ganz anderen Orten liegen, in ganz anderen Richtungen, wie auch Distanzen und Meere entsprechend verzerrt sein.
Schon bei meinen Recherchen zu vorhergehenden Videos mit dem Thema „Mittelalterliches Jerusalem“ bei Bern bzw. beim Bielersee in der Schweiz fiel mir auf, dass gleich neben dem Jolimont (als weiterer möglicher „Jerusalem-Alternative“), ein Ort namens „Epagnier“ liegt. Da stellte sich die Frage: „Ist das möglicherweise ein „Espagne“, für SPANIEN? Und siehe da: bereits 1163 hiess dieser Ort tatsächlich „Espagnie“! Wenn wir den Urkunden glauben wollen – denn damals und auch später waren Fälschungen bzw. schamlose Rückdatierungen von Urkunden eher die Regel denn
die Ausnahme1. Und unmittelbar daneben liegt das heute angeschlossene Dorf Marin, was namentlich schon mal das Meer ankündigt...
Und gleich daneben, zu Füssen des Jolimont, liegt dann das Dörfchen Gals. Dieses wurde 1165, also zu fraglicher Zeit, als die hochadeligen Herren von Fenis/Neuenburg die Region und den Jolimont beherrschten, „Galles“ geheissen, was für „Gallien“, also FRANKREICH steht. Und wie es der Zufall so will, hat Gals seit langer Zeit gleich drei (3) Lilien im Wappen. Die heraldische Lilie heisst auch „Fleur de Lys“, wobei „Lys“ der
1 Alle urkundlichen Datierungen/Angaben im Artikel sind entnommen aus dem „Historischen Lexikon der
Schweiz – HLS“: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS) - Schweizer Geschichte (hls-dhs-dss.ch) geläufige mittelalterliche Name für Frankreich war. Und Lilien durften nur Familien bzw. Orte führen, welche sich um Frankreich oder das frz. Königshaus verdient gemacht haben. Passt also... und auch zum Städtchen Lyss bei Aarberg, unweit des Bielersees, das ebenfalls die Lilie im Wappen führt :-)
Bild der Bielersee-Region in der Schweiz gemeinfrei aus openstreetmap.ch; Markierungen vom Autor
Wir hätten mit Jerusalem, Spanien und Frankreich also schon einen beträchtlichen Teil der damals bekannten Welt um den Jolimont beim Bielersee verortet. Daraus ergab sich dann fast zwangsläufig die Frage: gäbe es noch mehr Entsprechungen damals bekannter Länder & Regionen, die sich im Herrschaftsbereich der damaligen „Gründerherren“ (von Fenis/Neuenburg bzw. ihre später verselbständigten Ministerialen von Erlach) bzw. unweit davon um das mutmassliche Jolimont-Jerusalem gruppieren? Und Seen hat es in der betreffenden Region ja genug, wird sie doch auch „Drei-Seen-Land“ genannt; ein entsprechendes Mittelmeer würden wir also gratis dazu bekommen :-) und noch 2 weitere „Meere“ obendrauf...
Da wäre zunächst einmal das „Stedtli Erlach“ am Bielersee, welches um 1100 von den infrage kommenden Herren von Fenis/Neuchâtel gegründet wurde, und zu Füssen des Jolimont/Jerusalem liegt: wie in früheren Videos & Artikeln schon erwähnt, sind früheste Formen (bzw. Quellen) dieses Namens „Caereliacum“ und „Ciriliacum“: das könnte auch auf Karl (den Grossen) referenzieren, der vor über 1000 Jahren ein grosses Reich (das Frankenreich) beherrschte, das ungefähr das heutige FRANKREICH UND
DEUTSCHLAND umfasste. Erlach wäre somit ein „Karls-Ort“2, oder ein Tor dazu, gewissermassen :-) Und sah sich im Hoch- und Spätmittelalter nicht jeder nordalpine Herrscher in der hehren Tradition Karls des Grossen?
2 Erlach als „Karls-Ort“ ist eine Deutung des Berner Autors Christoph Pfister in „Die Ursprünge Berns“,
vierte veränderte Auflage 2020, dort S. 122; auf diesen Autor gehe ich später nochmal ein. In vorigen
Artikeln habe ich auch andere Deutungen dieses Ortsnamens ins Spiel gebracht, die natürlich ebenso
plausibel sind.
Frankreich als Teil des Frankenreichs hätten wir auf unserer kleinen Weltkarte nun schon verortet; doch was ist mit deutschen Landen? Die fänden wir direkt auf der anderen Seeseite, namentlich im Diesse-Plateau, zu Füssen des Jura-Gebirges: Seit der Schlacht auf dem Lechfeld, wo König Otto der Grosse 955 die vier deutschsprachigen Stämme Franken, Schwaben, Bayern und Sachsen erstmals im Kampf gegen einen gemeinsamen Feind, hier die Ungarn einte, war auch südlich der Alpen erstmals die Rede von den „Tedesci“, als Sammelbezeichnung für die Deutschen. „Tedesci/Tedesco“ gründet sich möglicherweise auf „Tiu“ (Tiu, was wie das andere indoeuropäische „Deo/Theo“ oder „Dio“ für Gott steht, war der gemeinsame Stammesgott aller Germanen) bzw. „Tiutsch“: für deutsch. Das Diesse-Plateau zu Füssen des Chasseral (der höchste Gipfel des Jura) ist benannt nach dem darauf liegenden Dörfchen Diesse. Zu deutsch heisst das Diesse-Plateau „Tessenberg“: auch hier klingt „deutsch“ durch. Und ob Zufall oder nicht: gerade der Familienname „TEUTSCH“ ist auf dem Tessenberg seit jeher verankert und verbreitet! Gleich neben Diesse liegt dann noch das Dörfchen „Nods“: das könnte generell für „Nord“ stehen: ein Doppelcode gewissermassen :-)
Schauen wir nach Westeuropa, also nach England: fänden wir dieses auch? Vielleicht in „Enges“, auf dem Chaumont, gleich neben dem Diesse-Plateau. Dieses Dörfchen hiess 1178 „en Enges“, also „in England“. Gleich daneben ist noch ein Weiler, „Lordel“. Ein ungewöhnlicher Name, wo doch hier dazumal französisch oder frankoprovenzalisch gesprochen wurde. Ist das eine Anlehnung an das englische „Lord“? ENGLAND bei Enges würde sich auch geografisch ganz gut in unsere kleine Weltkarte einfügen...
England könnte sich aber auch in Brüttelen verstecken, welches um 1142 „Britinie“ hiess. Der Name könnte aber auch etwas mit „Brücke“ zu tun haben, wie das Gemeindewappen nahelegt.
Und nehmen wir den Bielersee als gedachtes Mittelmeer, was vermuten wir gegenüber? ÄGYPTEN. Wie ich in früheren Videos und Artikeln schon gezeigt habe, steht der alte Name von Vinelz (Dorf und Burg „Fenis“) woher auch die infrage kommenden Herren von Fenis/Neuenburg stammen, für den Phönix bzw. die Ägypter. Könnte aber auch für Phönizien stehen. Der Sankt Jodel oberhalb von Ins, wo damals eine Pilgerkapelle entlang des Jakobsweges stand, ist dem Hl. Sankt Theodul geweiht. Dieser entdeckte das Grab des Hl. Mauritius in Sion/Sitten, welcher ein Märtyrer der sagenhaften „Thebäischen Legion“ war. Diese Legion war ebenfalls ägyptisch.
Mitten im Bielersee liegt noch die bekannte „Sankt Petersinsel“, seit jeher mythologisch und religiös extrem aufgeladen. Diese trug ein Kloster (heute ein Restaurant darin), das dem Apostel Petrus geweiht war. Dieser unternahm Fahrten über das Mittelmeer, wo er viel predigte und bekehrte, bis er der Überlieferung nach in ROM anlangte. Wo heute noch der „Sankt Peter“, also der Petersdom, von ihm zeugt und kündet. Der Bielersee könnte aber auch, bildlich gesehen, für den See Genezareth stehen, wo ja bekannterweise eine Sturmepisode mit Petrus und dem Heiland überliefert ist. Und den italienischen Stiefel, worauf Rom liegt, fänden wir in der Landbrücke (heute sog. „Heidenweg“), die von Erlach zur Petersinsel führt. Dieser Weg ist zwar offiziell erst seit den grossen Juragewässerkorrektionen in der Region vom 19./20. Jh. aufgetaucht, doch das Seeland bzw. der See hatten auch früher schon zeitweise tiefere Wasserstände bzw. war Land, das später Sumpfland war, früher noch bebau- und bewohnbar, wohl auch schon zu Römerzeiten.
Bilder oben: Reste der Abtei Sankt Johannsen bei Erlach am Bielersee: Bilder vom Autor 2007
Kaum zwei Kilometer entfernt, fast bei Erlach, befinden sich noch heute Überreste der „Abtei Sankt Johannsen“, welche dem Hl. Johannes dem Täufer geweiht war. Dieses Patronat ist ein weiterer JERUSALEM-Bezug, auf den ich noch nicht eingegangen bin: in Jerusalem steht die Kirche Johannis des Täufers, wo der bekannte Kreuzfahrer-Orden der Johanniter gegründet wurde. Und die sind in der Region sehr präsent, weil die Herren von Fenis/Neuenburg (welche auch die Abtei Sankt Johannsen gegründet haben), dem Johanniter-Orden sehr zugetan waren, haben sie diesem doch etliche Gelder, Land und Habe gespendet.
Bild: „Europa um 1100“, aus einem historischen Atlas von 1923, gemeinfrei
Und wo sind in unserer regionalen mittealterlichen „Miniaturwelt“ die UNGARN, die damals (also ca. 100 Jahre bevor die fraglichen Herren von Fenis/Neuenburg die Macht in der Region übernahmen) halb Europa überranten? Der alte Name für das Volk der Ungarn (Nachfahren der Hunnen, also eigentlich „Hungarn“, war Magyar bzw. Magyaren, gesprochen „Madschar“, auch von „Magy“ oder „Megiern“ war die Rede): die Magy oder Magyaren könnten wir in Magglingen finden, frz. Macolin, oberhalb Biels. Und wie es der Zufall so will, ist gleich daneben die Flur „End der Welt“, wo heute die eidg. Sportschule steht, und ein gleichnamiges Restaurant. Und wenn in dieser Zeit bzw. 100 Jahre zuvor, die Ungarn einfielen, war das für viele tatsächlich das Ende der Welt bzw. deren Untergang, denn die Ungarn waren weit herum gefürchtet, galten gar als „Geissel Gottes“: viele überlebten ihre Angriffe nicht, andere wurden gebrandschatzt oder verschleppt etc. Und für einen Mittel- oder Westeuropäer begann gleich hinter dem Balkan bzw. dem heutigen Ungarn das grosse, unbekannte Asien bzw. markierten die Ungarn auch geografisch das „Ende der Welt“.
Bild: Einfälle der Ungarn im 10. Jh., lizenzfrei aus wikipedia commons, von „Csanady“ 2005
Schauen wir aber nochmal auf das Mittelmeer (bzw. unseren Bielersee): dort liegt bekanntlich auch Italien bzw. Sizilien. In Siselen (1160 „Sisilli“) fänden wir schon mal SIZILIEN bzw. das vorgeschichtliche Volk der Sizeler oder Sikeler, die Sizilien den Namen gaben. Und das Königreich Sizilien war damals weit grösser als die heutige Insel, es umfasste zusätzlich den ganzen südlichen Teil der italienischen Halbinsel.